Mihla vor und im I.Weltkrieg - Ein Dorf im Umbruch
 
 
Die Einwohnerzählung des Jahres 1913 erbrachte für Mihla 2008 Bewohner. Innerhalb von 33 Jahren (bezogen zur vorherigen Zählung 1880) hatte sich die Einwohnerzahl um 492 Personen erhöht.
Mihla war zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den besten Weg, seinen dörflichen Charakter hinter sich zu lassen. Bereits in den früheren Jahrhunderten war der Ort zu einem wirtschaftlichen, kirchlichen und gerichtlichen Zentrum der Region des mittleren Werratales geworden. Immer hatte jedoch die Landwirtschaft überwogen. Erst das Aufkommen der Industrie nach der Reichsgründung 1871 veränderte dies nachhaltig und die Ansiedlung mehrerer Bauunternehmen, der Zigarrenindustrie und von Einrichtungen der Holzverarbeitung sowie der Bahnanschluß und die Elektrifizierung kündeten vom Aufbruch in neue Zeiten.

Die Jahre um die Wende zum 20sten Jahrhundert gestalteten sich so zu Jahren des Umbruchs, der Veränderung in allen Bereichen des Lebens. Neues entwickelte sich neben Altem, Traditionelles und mitunter längst Überholtem.

Vieles erinnerte noch an die frühere Bedeutung der Landwirtschaft, aus der noch immer Mihlaer Familien ihren Erwerb zogen. Die Häuser waren als Fachwerkhöfe errichtet. Genau konnte man zwischen den großen Höfen der "Anspänner", also derjenigen Bauern, die in ihrer Wirtschaft über Pferde verfügten, der "Ochsenbauern" und der Dorfhandwerker unterscheiden. Noch immer türmten sich vor dem Hoftor die Misthaufen, flossen Jauche und Abwässer auf die Straße und bildeten dort große Schlammlöcher. Bis auf die Hauptstraßen waren alle anderen Gassen nur notdürftig befestigt. Erst in den letzten Jahren vor 1900 ging die Gemeinde daran, diese Zustände zu ändern. Ab 1895 erhielten die ortsansässigen Maurerfirmen Meyfarth, Schlothauer und Hasert Aufträge für den Ausbau der Gehwege, Straßen und Brücken. Bis zum Jahre 1907 waren so die Straßen von der "Aue" bis zum Propel und entlang der Marktstraße mit gepflasterten Gehwegen versehen worden und die Fahrbahn hatte ebenfalls eine Pflasterung erhalten. Die Bahnhofsstraße wurde erst in den 20er Jahren befestigt.

Veränderungen waren mit zunehmender Einwohnerzahl und Industrie auch in der Wasserversorgung notwendig. Noch immer bestimmten die alten Dorfbrunnen das Straßenbild: 6 Pumpbrunnen, 2 Laufbrunnen und 2 Schöpfbrunnen standen als öffentliche Einrichtungen zur Verfügung. Lediglich der Marktbrunnen; sein Standort auf dem "Kleinen Markt" wird durch die vier Linden noch heute gut markiert; wurde durch eine hölzerne Wasserleitung aus dem Maßholder gespeist.

Ab 1890 begann die Gemeinde den Bau einer Wasserleitung. Durch einen Hochbehälter am Lauterbacher Köpfchen wurde das Wasserleitungsnetz gespeist. Der Abschluß des Trinkwassernetzes konnte allerdings erst am Ende der 20er Jahre erreicht werden, zu einer Zeit, in der bereits die ersten gelegten Leitungen wieder ausgewechselt werden mußten.

Ein weiteres Problem stellte der Ausbau eines Abwasserkanalsystem dar. Erst im Jahre 1907 wurde durch die Gemeinde ein erster Kanalbau am Hundsanger vorgenommen, ein Jahr später folgte die Schloßgasse.

Allmählich veränderte sich so das altgewohnte Straßenbild. Dies wurde besonders sichtbar, nachdem Mihla im Oktober 1907 einen Bahnhof erhalten hatte. Am 17. Februar 1911 schalteten sich erstmals die neuen elektrischen Straßenlampen ein, deren Strom durch das Elektrizitätswerk in der Werramühle erzeugt wurde. Lediglich der Gasthof "Zum Schwan" besaß vorher elektrischen Strom: Seit 1898 betrieb der Gastwirt und Kramladenhändler Böttger einen eigenen Generator.

Auch Geschäfte gab es nun im Ort. Die meisten benötigten Geräte für den Alltag wurden von den Dorfhandwerkern selbst hergestellt. 1902 zählte man in Mihla 4 Fleischer, 5 Bäcker, zudem gab es 5 Materialhändler und 8 Gastwirtschaften bzw. Restaurationen. Üblich war das Anschreiben beim Kauf, also für erworbene Waren wurde erst am Jahresende, oft nach Verkauf der Ernte, gezahlt. Auch die Ritterfamilien von Harstall machten hier keine Ausnahme, wie die erhaltene Anschreibekladde des Kramwarenladens Böttger (später die Diele im "Schwan") berichtet.

Im Jahre 1906 gründete sich in Mihla ein Konsumverein. Dem aus England stammenden Genossenschaftsgedanken verpflichtet, traten ihm zunächst 73 Mihlaer bei. In der Marktstraße bei der Familie Schreiber entstand das erste Konsumgeschäft, in dem die Mitglieder günstig einkaufen konnten. 1914 richtete der Verein ein zweites Geschäft ein, nachdem der Gastwirt Ernst Böttger im "Schwan" Konkurs anmelden mußte. In der heutigen Diele entstand eine Konsumverkaufsstelle.

Der Genossenschaftsgedanke war auch in der Landwirtschaft verbreitet. Nach einer Druschgenossenschaft, deren Mitglieder gemeinsam eine Dreschmaschine mit Dampfantrieb beschafften und nutzten (sie wurde in einer Scheune an der Teichwiese, heute Grundstück der Familie Wahnelt in der Wiesenstraße abgestellt), entstand durch den Pfarrer Kötschau im Jahre 1894 ein Raiffeisenverein in Mihla, zu dem auch eine "Darlehenskasse" gehörte (Wohnhaus der Familie Cott an der Kreuzung Lauterbacher Straße - Schornstraße). Während durch den Verein eine günstige Versorgung mit allen in der Landwirtschaft benötigten Gütern möglich wurde, kamen viele Einwohner Mihlas und der Umgebung durch die Darlehenskasse zu günstigen Möglichkeiten einer Kreditaufnahme, um die eigenen Geschäfte führen zu können. Beide Einrichtungen wirkten sich fördernd auf den Prozeß der Industrialisierung aus.

Besonders sichtbar wurde der Beginn einer neuen Zeit auch in der Entwicklung der Schulverhältnisse. Bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts unterrichteten drei Lehrer in den 3 Klassenräumen der alten "Bürgerschule" in der Marktstraße alle Kinder gemeinsam. 70 bis 80 Kinder saßen in einem Schulsaal und mußten in bis zu drei Klassenstufen gleichzeitig lernen.
Zu Ostern 1899 kam die neue "Carl Alexander Schule" im Gelände der früheren "oberen" Schäferei hinzu und bis zum Jahre 1914 wurden zwei weitere Lehrerstellen eingerichtet. Eine wesentlich gründlichere Schulbildung war die Folge, ein Umstand, der sich in einer Zeit dringend benötigter umfassender Kenntnisse auszahlen sollte.

Noch immer lief das alltägliche Leben in den altgewohnten Bahnen. Überlieferungen und Traditionen bestimmten den Ablauf des Jahres. Gerade im Brauchtum hielten sich die gewohnten Vorstellungen recht lange. Während die Hauptfeste des Dorfes, Kirmes, Schützenfest, und der Ablauf der kirchlichen Hauptfeste Ostern und Weihnachten, in die "neue" Zeit übernommen wurden, verschwanden andere Bräuche und Gewohnheiten mit dem Zuzug von "fremden Volk" und den Auswirkungen der Industrialisierung bald. In den 20er Jahren wurden die alten Mihlaer Trachten kaum noch getragen, die Spinnstuben verschwanden gemeinsam mit der einst so vorherrschenden Leineweberei. Der Ablauf der Familienfeste änderte sich. Geblieben war die Erinnerung an die "gute alte Zeit", ein Umstand, der bis in die heutigen Tage hinein ausstrahlt.


Neujahrsgedenken 1918

Das Jahr 1917 war als drittes Kriegsjahr zu Ende gegangen. Über die Gedanken und Hoffnungen unserer Vorfahren in dieser schwierigen Zeit berichtet der damalige Pfarrer Kötschau in einem Bericht der kirchlichen Zeitschrift, den "Heimatglocken". Zum Neujahr 1918 schreibt er:

"Der Beginn des neuen Jahres wurde bei uns in der üblichen Weise feierlich mit Glockengeläut und den Weisen alter Choräle vom Turm her aus dem Munde unserer erwachsenen Choradjuvanten begrüßt. Beweglich war es für viele Herzen, daß man nur die eine Glocke noch hören konnte, die seit 400 Jahren ihre Stimme hat hier erschallen lassen (die beiden anderen von dem bekannten Glockengießer Kutschbach im 18. Jahrhundert gegossenen Glocken waren bei Beginn des Krieges zum Einschmelzen für die Rüstungsindustrie abgegeben worden; nur die 1516 gegossene Glocke konnte als "kunsthistorisch wertvoll" gerettet werden. Zwei neue Glocken wurden durch die Gemeinde erst 1933 beschafft/Lä).

Möge das Jahr 1918 auch für unser Heimatdorf günstiger gestalten, als das vorjährige. Das wird lange in Erinnerung bleiben als das Typhusjahr, wodurch sich die Not der an sich schon schweren Kriegszeit bei uns noch steigerte. Es waren 10 Todesfälle zu beklagen und für ebensoviele Gefallene wurden Trauergottesdienste gehalten.
Unter den an Typhus verstorbenen befanden sich 3 Hausfrauen und Mütter, deren Männer das Ehrenkleid des Kriegers tragen. Welch schwere Heimsuchung der Familien!

Im neuen Jahr steht nun unserem Orte eine große Veränderung bevor durch den Übergang des Roten Schlosses in die Hand des neuen Besitzers Scharpenseel. Wie wir hören ist die Familie katholisch. Welchen Einfluß das auf die örtlichen Verhältnisse hat, bleibt abzuwarten."

Zumindest in der letzten Aussage kann eine Antwort gegeben werden. Der neue Besitzer des Roten Schlosses, Herr Scharpenseel, blieb nicht lange in Mihla. Er hatte nur vor, möglichst viel Geld aus dem erworbenen Gut zu schlagen und nach einigen Verkäufen von Land und Wald zog er sich ein Jahr später wieder zurück. Das Gut kam nun in die Hände des Herrn Lichtenberg.

Hierzu schrieb Pfarrer Kötschau, ebenfalls in den "Heimatglocken", im Oktober 1918:

"Der neue Besitzer des Roten Schlosses, Herr Scharpenseel, hat an seiner Erwerbung keine rechte Freude gefunden. Kaum hatte er vom Rittergut Besitz ergriffen, so hat er es in der Zeitung zum Kauf angeboten und mit äußerster Beschleunigung wieder verkauft. Die früher erhobene Frage, wie sich das Verhältnis der katholischen Gutsherrschaft zu der evangelischen Gemeinde gestalten werde, ist somit in unerwarteter Weise gelöst. Als Name des nunmehrigen Besitzers wird Herr Lichtenberg genannt. Ansonsten weiß man von ihm nichts Näheres..."

Der zweite Wunsch des Pfarrers zum Neujahr 1918, das Ende des Krieges betreffend, erfüllte sich auch im Jahre 1918, allerdings mit der Niederlage Deutschlands und mit dem Sturz des Kaisers und der regierenden Fürsten. Bis dahin mußten noch viele Trauergottesdienste für Gefallene aus Mihla abgehalten werden, 71 waren es bei Jahresende insgesamt, die seit 1914 gefallen waren.